Hellerau

Ort des Aufbruchs in ein neues Jahrhundert
Leitfaden und Orientierung von Dr. Joachim Gobbert
A. Entstehungsgeschichte

In Hellerau bei Dresden entstand zu Beginn des 20. Jahrhunderts die erste deutsche Gartenstadt. Die Gartenstadtidee, ursprünglich aus England kommend, wurde jedoch in Deutschland durch dieLebensreformbewegung besonders befördert. Diese Bewegung, die sich sehr schnell verbreitete und alle wichtigen Bereiche des Lebens erfasste, hatte sich zur Aufgabe gestellt, einen Gegenwert zu schaffen zur immer weiter fortschreitenden Industrialisierung, Technisierung, Kapitalisierung, Verwissenschaftlichung und deren Folgen. Man sah voraus, dass für die weitere Entwicklung der Menschheit ein solches Gegengewicht zwingend notwendig war.
Einen Ausweg aus den bestehenden Zwängen und Schwierigkeiten sah man u. a. in der allgemeinen Forderung, den Menschen mit seinen ursprünglichen und natürlichen Fähigkeiten wieder mehr in den Mittelpunkt zu stellen. Das hatte eine Rückbesinnung auf Altes, Bewährtes, schon längst Vergessenes und Verlerntes zur Folge.
Die Jugendbewegung, ein zentrales Phänomen dieser Aufbruchszeit verstand sich Avantgarde: Heraus aus den Mietskasernen der Städte, wandern und singen in freier Natur, legere Kleidung (Reformkleid), ohne Krawatte und gestärkten Kragen (Schillerkragen), die Befreiung des Körpers zur Natürlichkeit und Anmut. Das Entstehen der FKK-Bewegung und das Aufkommen der Reformkost, des ökologischen Obst- und Gemüseanbaus (Eden bei Oranienburg) waren weitere Meilensteine auf diesem Wege. In der Architektur war es die Forderung nach Wohnen mit Licht, Luft, Sonne und kleinem Garten, ohne Bodenspekulation im Handwerk, als Gegensatz zur rein industriellen Produktion, eine neue Wertschätzung handgearbeiteter Produktion. Diese revolutionären Ideen gingen mit sozialreformerischen Gedanken eines Friedrich Naumann konform.
Natürlichkeit, Spiel, Sport, Gymnastik, Körperlichkeit, Freiheit, Ungezwungenheit waren Schlagworte, die diese Zeit prägten.

Kommen wir nun zurück zu Hellerau. Als Keimzelle dieser ersten deutschen Gartenstadt wurden die Deutschen Werkstätten errichtet, die auf eine Verbindung zwischen handwerklicher und maschineller Möbelproduktion setzten. Neben diesen Werkstätten bauten und entwickelten renommierte Architekten der damaligen Zeit Häuser, bzw. Häusertypen, auf genossenschaftlicher Basis, nach den schon o. g. Gesichtspunkten. So entstand die Reformsiedlung Hellerau. Herausragende Persönlichkeiten dieser Anfangszeit waren Karl Schmidt, Richard Riemerschmidt, Wolf Dohrn, Heinrich Tessenow und Hermann Muthesius.


B. Die Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze und Nachfolgeschulen

1. Wolf Dohrn, Leiter des Deutschen Werkbundes und ein führender Kopf der Lebensreformbewegung, lernte in Berlin und Dresden bei Vorführungen den Schweizer Musiker Emile Jaques-Dalcroze Emile Jaques-Dalcrozekennen. Dalcroze war Lehrer für Gehörbildung und Harmonielehre am Genfer Konservatorium, Komponist und Dirigent, und hatte Anfang des Jahrhunderts zusammen mit seinen Studenten eine Methode entwickelt, ein Darstellungssystem: Musik über den Körper erlernbar, erfahrbar und erlebbar zu machen, wobei dem musikalischen Rhythmus eine entscheidende Rolle zukam. Musik sollte nicht nur hörbar sondern auch sichtbar gemacht, plastisch dargestellt werden. Der Körper wurde von Jaques-Dalcroze als ein Instrument im Sinne der Musik aufgefasst; so entstand durch Jaques-Dalcroze ein völlig neuer Typ des Musikers, der „Körpermusiker“, eine neue Sparte der Musik, die „Plastische Musik“.

Jaques-Dalcroze nannte seine Methode, sein System, wohl in Anlehnung an den griechischen Begriff von Musik „Rhythmische Gymnastik“, später „Rhythmik“. Die Methode Jaques-Dalcroze war gleichermaßen ein pädagogisches wie künstlerisches Darstellungssystem.

Die Vorführungen von Jaques-Dalcroze mit seinen Studenten in Berlin und Dresden faszinierten Wolf Dohrn Wolf Dohrnderart, dass er den kühnen Entschluss fasste, Jaques-Dalcroze in die neu entstehende Gartenstadt Hellerau zu holen und ihm eine entsprechende Schule zu bauen. Somit hatte Hellerau ein kulturelles Zentrum und vermittelte den Menschen eine neue Ausdruckskunst, die sein Schöpfer als ein revolutionäres Konzept zur Erneuerung des Tanzes aus dem Geist der Musik verstand.

Der utopisch anmutende Plan Wolf Dohrns realisierte sich in relativ kurzer Zeit. Jaques-Dalcroze nahm das Angebot Wolf Dohrns an, die Schule wurde als „Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze“, durch den Architekten Heinrich Tessenow gebaut, der Unterrichtsbetrieb wurde 1910 aufgenommen.
Heinrich TessenowIn vier Jahren, bis zum Ausbruch des 1. Weltkriegs entwickelte sich die Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze zu einem internationalen Institut, und machte, durch ihre jährlich stattfindenden Schulfeste, die einen Einblick in die pädagogisch-künstlerische Arbeit boten, Schlagzeilen. Jaques-Dalcroze hatte für sein Vorhaben besonders in der deutschen Musikszene prominente Führsprecher. Der Jury für die jährlichen Diplomprüfungen gehörten u. a. der GMD der Stuttgarter Hofoper und Komponist Max von Schillings und der GMD Fritz Steinbach, Köln, an . Das zeigt, welch hohes musikalisches Niveau die Ausbildung in Hellerau hatte.

Aber nicht nur musikalisch machte Hellerau Furore. Durch die Freundschaft Jaques-Dalcroze’ mit dem Theatertheoretiker Adolphe Appia konnte jener seine Vorstellung einer vorhanglosen Stufenbühne in Hellerau verwirklichen, konnte er seine Rhythmischen Räume schaffen. Der LichtexperimentatorAlexander von Salzmann gestaltete den großen Saal der Bildungsanstalt zu einem faszinierendem Raum, der durch hunderte von Glühbirnen hinter transparentem Stoff stufenweise erleuchtet werden konnte. Tessenows Gebäudekomplex, dessen Mittelpunkt der große Saal mit Treppenhäusern, Foyer und Übungsräumen war, war d i e kongeniale Schöpfung zur Jaques-Dalcroze’ Darstellungssystem, das mit stilisierten Gesten und Symbolen arbeitete, eine Ausdruckskunst, die nicht die realistische Darstellung bevorzugte, wie der wenig später entstandene Ausdruckstanz, sondern abstrakte geometrische Formen.
Auf Stilisierung und Abstraktion in der Darstellung setzten zu dieser Zeit neben Jaques-Dalcroze auch andere Persönlichkeiten, z. B. der Maler, Theater-, und Tanzreformer Oskar Schlemmer (Triadisches Ballett) und der Theaterreformer E. G. Craig (Übermarionette). Der Schauspieler, Regisseur und Theaterreformer, Max Reinhardt und der Schriftsteller Hugo von Hofmannsthal schätzten die Arbeit von Jaques-Dalcroze in Hellerau und waren seinem Werk ebenfalls verbunden. Viele bedeutende Persönlichkeiten haben in den vier Jahren von 1910 – 14 die Bildungsanstalt besucht und Einblicke in die Arbeit von Jaques-Dalcroze nehmen können. Darunter waren u. a. der Leiter der Ballets Russes Serge Diaghilew und der berühmteste Tänzer und Choreograph dieser Truppe Waclaw Nijinsky. Die gewonnenen Eindrücke fanden in den 1913 aufgeführten Balletten „Jeux“ (Debussy) und „Le Sacre du Printemps“ (Strawinsky) ihren Niederschlag; daran hatte die Dalcrozeschülerin Miriam Ramberg einen entscheidenden Anteil, die von Diaghilew als Assistentin bestellt wurde und mit ihm nach Paris ging.

Leider beendete der Ausbruch des 1. Weltkriegs den verheißungsvollen Anfang in Hellerau. Jaques-Dalcroze der im Sommer 1914 zu einem Gastspiel in der Schweiz weilte, konnte nicht mehr nach Deutschland zurückkehren, seine ausländischen Mitarbeiter mussten Deutschland verlassen.

Die Wirkung, die Hellerau und Jaques-Dalcroze auf die Musik, die Musikpädagogik und den Tanz, das Theater ausübte, dauerte zwar noch eine Weile fort, aber ihr Zentrum war quasi über Nacht vernichtet worden.

In der Folge kam es zu einer langen Erosion, die das von Jaques-Dalcroze geschaffene Darstellungssystem in seiner künstlerischen wie pädagogischen Ausprägung allmählich verschwinden ließen. Die Gründe hierfür liegen in neuen Strömungen, denen die Schüler von Jaques-Dalcroze schon während ihrer Hellerauer Studienzeit ausgesetzt waren. Diese Strömungen gehören auch zu einem Teil der Lebensreformbewegung, die das Werk von Jaques-Dalcroze zunächst befördert hatte. Die Befreiung des Körpers, das Streben nach Natürlichkeit und Ursprünglichkeit ließen keinerlei „fremdes Diktat“ zu, auch nicht das der Musik. Und da bei Jaques-Dalcroze die Körperbewegung durch die Musik vorgegeben war, der Körper mit seinen Gesten und seinem Tun, einem Musikinstrument ähnlich agierte, kam der Gedanke auf, den Körperrhythmus bzw. das was man darunter verstand, als Impuls dem musikalischen Rhythmus gleichzusetzen und schließlich den musikalischen Rhythmus als körperfremd überhaupt fallen zu lasen. Die neue Ausdruckskunst, der Ausdruckstanz, der sich mehr und mehr in Deutschland durchsetzte, kam im Prinzip ohne Musik aus. Man suchte sich, wenn überhaupt, Musik aus, die zu der Körperbewegung passte, der Musik wurde eine Dienerrolle zugewiesen, während sie bei Jaques-Dalcroze der zentrale bestimmende Impuls für die Körperbewegung war.

Somit war der Ausstieg aus dem einzig und allein an der Musik orientiertem Darstellungssystem von Jaques-Dalcroze vollzogen. Die Devise lautete jetzt auf die Musik bezogen: Drücke das, was du bei gehörter Musik empfindest, intuitiv in Körperbewegungen aus (Improvisation) und nicht mehr: Drücke das musikalisch Fixierte mit Hilfe eines festgelegten Gestenkanons durch den Körper aus. Das letztere wäre plastische Darstellung von Musik, das erstere intuitive körperliche Bewegung zur Musik.

2. Die ehemalige Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze wurde schon während des 1. Weltkriegs unter ihrem Leiter Kurt Böckmann diesen neuen Ideen geöffnet und firmierte jetzt unter dem Namen Neue Schule für angewandten Rhythmus Hellerau.

3. Nach dem 1. Weltkrieg wurde der Weg der „Öffnung“ weiter fortgesetzt. Zwar nannte sich die Schule unter der Leitung der Dalcroze-SchülerChristine Baer-Frissell und
E. F. Freund offiziell wieder Dalcroze-Schule und man versuchte Dalcroze für diese neue Richtung zu gewinnen, er aber sperrte sich gegen Bestrebungen, sein auf der Musik basierendes System auf solche Weise „weiter zu entwickeln“.
Waren schon nach ihrer Hellerauer Ausbildung die Dalcroze-SchülerinnenSuzanne Perrottet und Mary Wigman eigene Wege gegangen, so tat das auch die Dalcroze-Schülerin Valerie Kratina, die nach dem 1. Weltkrieg in Hellerau, was den Tanz anbelangte, eine wesentliche Rolle spielte. Als die Schule im Jahre 1926 von Hellerau nach Laxenburg bei Wien übersiedelte, war der Bruch mit Dalcroze endgültig vollzogen. Die Schule nannte sich jetztSchule Hellerau Laxenburg.

Dass anlässlich des Schulfests von 1913 die Bildungsanstalt auch für das Schauspiel geöffnet wurde, ist bemerkenswert. Hier wurde unter Paul Claudels Leitung sein Schauspiel „Die Verkündigung“ in der deutschen Fassung uraufgeführt. Außer der Aufführung von Glucks „Orpheus“ und dieser Aufführung , wurde der große Saal der Bildungsanstalt zu Dalcroze-Zeiten für keine weiteren theatralen Projekte genutzt. Zwar hat es nach dem 1. Weltkrieg hin und wieder Theateraufführungen gegeben, jedoch waren das mit Ausnahme der Schauspieltruppe Haass-Berkow im Jahre 1919/20 und dem Gastspiel der Dresdener Staatsoper mit Gluck’s „Iphigenie in Aulis“ unter Fritz Busch im Jahr 1932, vor allen Dingen Aufführungen der Nachfolgeschulen der Bildungsanstalt. Der Name „Festspielhaus“ für die Bildungsanstalt hat sich erst später durchgesetzt. Tatsächlich war die Bildungsanstalt niemals ein Festspielhaus im Sinne von Bayreuth oder Salzburg. Der große Saal war vor allem Übungs- und Aufführungsort musikalisch-tänzerischer Projekte aber niemals ein Theater.


C. Pädagogische Geschichte

Die Lebensreformbewegung trat, wie schon erwähnt, auf allen wichtigen Gebieten des Lebens mit neuen, teilweise revolutionären Ideen hervor. So auch in der Pädagogik. Die staatlichen wie konfessionellen Schulen mit traditionellem Zuschnitt wurden durch freiere Formen ergänzt, wobei sich „freier“ auf ihre Strukturen, ihre Lehrformen-, -angebote und –inhalte bezog. Ein sehr verbreiteter neuer Schultyp war das „Landerziehungsheim“, eine Internatsschule, oft in der Abgeschiedenheit ländlicher Gegenden, die geistige und körperliche Arbeit miteinander verbinden wollte. Das Lehrer-Schüler-Verhältnis sollte von erstarrten Formen auf neue kooperative Grundlagen gestellt werden, die Mitver-antwortung der Schüler in gewissen Bereichen gefördert und im Extremfall sogar die völlige Selbstbestimmung der Schüler zugelassen werden.

1. Schon zu Dalroze’ Zeiten gab es von 1912 – 1914 eine solche „moderne“ Schule, teilweise auf dem Gelände der Bildungsanstalt das „Schulheim für eine private höhere Schule“. Diese, nach den Plänen des Reformpädagogen Berthold Otto (Berlin) gegründete Hauslehrerschule wollte eine freiere Lernatmosphäre schaffen durch einen, über die Unterrichtsstunden hinaus gehenden, Lehrer-Schüler-Kontakt. Der Lehrstoff sollte bei kleinen Klassen von höchstens 12 Schülern auf die Fähigkeiten und Interessen der jeweiligen Schüler zugeschnitten sein und fächerübergreifend gestaltet werden. Neben dem theoretischen Unterricht gab es eine handwerkliche Ausbildung durch die Deutschen Werkstätten und eine rhythmische Ausbildung in der Bildungsanstalt.

2. Nach dem 1. Weltkrieg (1919) eröffnete in dem Gebäude der Hellerauer Volksschule von 1914 die Versuchsschule Hellerau ihren Unterrichtsbetrieb. Dieser staatlich geförderte Schulversuch, getragen von Reformpädagogen, versuchte einen am Kind orientierten Unterricht, fächerübergreifend und projektbezogen; man legte Wert auf ein von gegenseitiger Achtung und Vertrauen geprägtes Lehrer-Schüler-Verhältnis. 1933 wurde die Schule aufgelöst.

3. Auf dem Gelände der Bildungsanstalt wurde nach dem 1. Weltkrieg dieNeue Schule Hellerau gegründet, ungefähr zur gleichen Zeit wie dieDalcrozeschule Hellerau, die Christine Baer-Frissell leitete. Ihr Gründer, Carl Theil, früher Lehrer an der noch heute bestehenden berühmtenOdenwaldschule, etablierte in Hellerau ein internationales, als Arbeitsschule ausgerichtetes Landerziehungsheim mit Mittel- und Oberstufe. Man konnte wählen zwischen einer rein geistig-theoretischen Ausbildung, auf Humanismus und Naturwissenschaft bezogen oder einer gleichrangig praktischen Ausbildung (Gartenbau, Werkarbeit, Tischlerei, Metallverarbeitung, Buchdruck, Buchbinden, Färberei). Neben Fremdsprachenunterricht für beide Zweige wurden in Verbindung mit der Dalcrozeschule Körperbildung und Rhythmik angeboten. An dieser Schule unterrichteten auch ausländische Lehrer wie z. B. Alexander S. Neill.

4. Dieser Pädagoge, der verbunden mit dem Namen „Summerhill“ zum Begriff für antiautoritäre Erziehung geworden ist, errichtete im Jahre 1921 ebenfalls auf dem Gelände der ehemaligen Bildungsanstalt eine eigene Schule, die Internationale Schule Hellerau. Den Kindern war von vornherein freigestellt den Unterricht zu besuchen oder anderen Beschäftigungen nachzugehen. Die Schulgemeinde, bestehend aus Lehrern und Schülern, regelte wichtige Fragen des Schulalltags. 1924 wurde Neills Schule infolge politischer Ereignisse in Sachsen nach Österreich verlegt. Dieser Aufenthalt blieb jedoch nur eine kurze Episode. Wieder in England gründete Neill in Lyme Regis seine berühmte Summerhill-Schule, die nach einem Umzug nach Leiston jedoch ihren Namen behielt und noch heute besteht.

5. Schule Alois Schardt
Ein weiterer interessanter Schulversuch wurde von Alois Schardt, Assistent an der Berliner National-galerie, gestartet. Schardt wurde im Jahre 1923 von Harald Dohrn zum neuen Leiter der Bildungsanstalt berufen, nachdem 10 Jahre zuvor sein Bruder Wolf Dohrn in den Schweizer Alpen tödlich verun-glückte und dieser Posten in der Kriegszeit und unmittelbar danach nicht mehr besetzt worden war. Die Verwaltung teilten sich Harald Dohrn und Schardts Frau, die Schauspielerin Mary Dietrich vom Reinhardt-Ensemble Berlin, die schon als Hauptdarstellerin in Claudels „Verkündigung“ in Hellerau aufgetreten war. Schardt war ein Befürworter der Methode Jaques-Dalcroze und sah sie als einen Weg zu einer allseitigen harmonischen Körperbildung. Ein Anknüpfen an die Zeit von 1910 – 14 ist unverkennbar!

Die Schule von A. Schardt war eine höhere Schule für Kinder ab neun Jahren, ähnlich wie die Neue Schule Hellerau gegliedert, in einen wissenschaftlichen und einen praktischen Zweig. Eine zusätzliche künstlerische Ausbildung sollte eine Klärung des Gefühlslebens erreichen, indem man sich dem seelischen Gehalt der Kunstwerke zuwandte. Die Schauspielerin Mary Dietrich übernahm den Sektor der Körperausbildung: Dieser umfasste gymnastische und meditative Übungen und die Einführung in die Grundlagen der Tanz- und Schauspielkunst. Es wurden Sommerkurse durchgeführt und eine eigene Galerie mit bedeutenden Werken der Moderne in der Bildungsanstalt installiert. Marionettentheater, Tanzabende und Theateraufführungen („Sommernachtstraum“) bereicherten das Programm der Schule. Schon 1925 scheitere dieser vielversprechende Schulversuch wahrscheinlich wegen mangelnder staatlicher Unterstützung und der allgemeinen Finanznot.

6. Weitere Schulen auf dem Gelände der Bildungsanstalt
Auf dem Gelände der Bildungsanstalt, aber auch außerhalb dieses Areals, gab es Schulen die einerseits die handwerklichen Fähigkeiten förderten (auch in Verbindung mit den Deutschen Werkstätten), andererseits Bildungseinrichtungen für Mädchen und Frauen sowie Gymnastikschulen. Dazu gehörten

  • 1910 – 1919 Lehrwerkstätten der Deutschen Werkstätten mit Fachschule
  • 1918 – 1926 Handwerkergemeinde mit ihren Werkstätten für Tischlerei, Buchbinderei, Buchdruck, Silberschmiede, Töpferei, unter der Leitung von Heinrich Tessenow
  • 1925 – 1935 Töchterheim der Mathilde Zimmer-Stiftung
  • 1929 – 1934 Staatliche Wohlfahrtsschule für Frauen und Männer
  • 1926 – 1935 Seminar für Frauenbildung und Kindergärtnerinnenseminar, Leitung: Elisabeth Hunäus
  • 1931 – 1935 Gymnastikschule von Dora Menzler
    (Da Frau Menzler Halbjüdin war, wurde ihre Schule von demGelände der Bildungsanstalt verdrängt und musste sich in „Marsmann-Schule, Hellerau“ umbenennen. Der Zusammenhang zwischen Musik und Bewegung und Rhythmus und Bewegung und die Klavierimprovisation waren besondere Schwerpunkte im Ausbildungsplan beider Schulen), die später von Hildegard Marsmann weitergeführt wurde.
  • 1935 – 1952 Marsmann-Schule Hellerau
  • Landheim Hellerau, kath. Erziehungsheim für Schüler höherer Lehranstalten, Leitung: Kaplan Dr. Ludwig Baum

D. Pläne zur Nutzung des Geländes der Bildungsanstalt zwischen den Weltkriegen
  1. Hochschule für Gymnastik, nach Ideen von Harald Dohrn unter Mitwirkung von L. Pallat und F. Hilker (nicht realisiert)
  2. Gründung einer Kulturfilmgesellschaft mit Filmothek und Filmproduktionsstätte (Produktion des UFA-Films „Wege zur Kraft und Schönheit“)
  3. Verkauf des Geländes der Bildungsanstalt durch Harald Dohrn an den Staat Sachsen (1928).

E. Hellerau als Verlagsort

Jakob Hegner kam 1912 als schon bekannter Verleger von Leipzig über Berlin nach Hellerau. Er gründete den „Verlag der neuen Blätter“, den späteren Hellerauer Verlag. Hegner hatte keine Setz-maschinen, er arbeitete mit Handsatz unter Verwendung verschiedener Schrifttypen mit ihren Origi-nalschnitten aus verschiedenen Ländern und Jahrhunderten. Er entwickelte einen eigenen Buchtyp ohne dekorative Elemente. Verlegt wurden bedeutende Autoren, u. a. Paul Claudel und Sören Kierkegaard. 1918 brachte Hegner die Vierteljahreszeitschrift „Summa“ heraus, die sich als Plattform zur geistigen Neuordnung nach dem Krieg verstand. Hier kamen u. a. Autoren wie Ernst Bloch, Hermann Broch, Max Scheler und Paul Adler zu Wort. Der Kulturessayist und Schriftsteller Peter de Mendelssohn, der in späteren Publikationen seine Kindheit und seine Erlebnisse zu Beginn des 20. Jahrhunderts in Hellerau beschrieben hat, zitiert in seinem Vortrag „Erinnerung an Jakob Hegner“ den Verleger: „Einen Verlag macht man nicht, man lebt ihn, opfert sich für ihn. Anders wird er nicht bestehen als aus der Kraft und der besonderen Sendung seiner Werke“


Natürlich wäre noch viel mehr über den Ort Hellerau zu sagen, der ein Kristallisationspunkt der Kultur war, eine Art Kulturwallfahrtsort. In diesem Zusammenhang möchte ich eine Reihe bedeutender Per-sönlichkeiten nennen, die auf verschiedene Weise mit Hellerau in Verbindung gebracht werden kön-nen: die Gebrüder Albert und Charles Edouard Jeanneret (Les Corbusier), George Bernard Shaw, Rainer Maria Rilke, Franz Werfel, Helene von Nostiz, Hugo von Hofmannsthal, Harry Graf Kessler, Franz Kafka, Oskar Kokoschka, Ernst Barlach, Theodor Däubler, Darius Milhaud, Kurt Pinthus, Emil Strauß, Martin Buber, Gerhard Hauptmann, Henry van de Velde, Lou Andreas Salomé, Mies van der Rohe, Edwin Fischer, Alfons Paquet, Emil Nolde, Feruccio Busoni, Frank Thiess, Else Lasker-Schüler, Friedrich Wolf, Hugo Ball, Kurt Schwitters, Otto Brahm, Max Klinger, Sergej Rachmaninow, Joachim Ringelnatz, Konstantin Stanislawski, Gottfried Benn und Upton Sinclair


F. Das Gelände der ehemaligen Bildungsanstalt während des Nationalsozialismus und der DDR-Zeit

Das Jahr 1933, die Machtübernahme der Nationalsozialisten, bedeutete für die wenigen noch verbliebenen Institutionen auf dem Gelände der ehemaligen Bildungsanstalt nicht sofort das Ende ihrer Existenz. In den beiden darauffolgenden Jahren jedoch, bis 1935, wurden sie entweder aufgelöst, oder mussten sich eine neue Bleibe suchen. Einzig und allein die in „Marsmann-Schule Hellerau“ umbenannte Gymnastikschule von Dora Menzler konnte sich, wenn auch in einem anderen Domizil, in Hellerau sogar bis in die DDR-Zeit halten. Sie musste erst 1952 ihre Pforten schließen.

Das inzwischen leer stehende Gebäudeensemble sollte nun einer neuen Bestimmung zugeführt werden, und sicher hatten sich die Hellerauer Schriftsteller Bruno Tanzmann und Heinrich Pudor, die sich zu den völkischen Ursprüngen des Nationalsozialismus bekannten, dafür eingesetzt.

So gab es Pläne, das Gelände als Sitz einer „Reichsopernschule“, als Veranstaltungsort der „Reichs-theaterwoche“ und als „Weihebühne des völkischen Dramas“ (1936) zu nutzen. Selbst der Besuch des Reichspropagandaministers 1936 auf dem Gelände der ehemaligen Bildungsanstalt vermochte es nicht, einen dieser Pläne zu verwirklichen.
Hatte es an dem Namen Heinrich Tessenow gelegen, der als Architekt der verhassten Weimarer Republik, den Nationalsozialisten nicht genehm war (obwohl er der Lehrer von Albert Speer war)? Genaues über die Hintergründe ist nicht bekannt.
Schließlich wurde im Jahr 1937 der Abriss der flankierenden Pensionshäuser und der Sonnenbäder verfügt und der bisher offene Vorplatz durch den Bau von zwei massiven Kasernenbauten geschlossen. Der große Saal und die beiden Oberlichtsäle wurden durch Einbauten architektonisch verändert. Die ehemalige Bildungsanstalt wurde zur Polizeikaserne, der große Saal eine Turnhalle!

Während des 2. Weltkrieges waren hier verschiedene Truppenteile stationiert. Nicht gesichert ist der Aufenthalt einer baltischen SS-Einheit auf dem Gelände.

Nach dem Krieg unterstand das Gelände wie alle militärisch genutzten Immobilien dem Alliierten Kontrollrat. Erwähnenswert in diesem Zusammenhang wäre noch das Schicksal des letzten Leiters der Bildungsanstalt Harald Dohrn, der bis zum Verkauf der Immobilie ständig bemüht war, das Gelände einer neuen, sinnvollen Nutzung zuzuführen.

Harald Dohrn, der Kontakte zur Widerstandsgruppe „Die weiße Rose“ unterhielt und an konspirativen Treffen dieser Gruppe teilnahm, vermittelte deren Mitgliedern die zukunftweisenden Ideen, die einstmals in Hellerau in dem „Laboratorium einer neuen Menschlichkeit“ (Claudel) entstanden und auch teilweise realisiert wurden.

Am 29. April 1945 wurde Harald Dohrn zusammen mit 150 Häftlingen von einem SS-Kommando in der Nähe von München erschossen.

DDR-Zeit

1945, nach dem Ende des 2. Weltkriegs, wurde das Gelände der ehemaligen Bildungsanstalt sowjetische Kaserne.
Versuche, die Dresdener Musikhochschule bzw. das Zweite DDR-Fernsehen dort zu etablieren, scheiterten.


G. Pläne und Konzepte für die Nutzung des Geländes der ehemaligen Bildungsanstalt Jaques-Dalcroze
ab 1990

Nach der Wiedervereinigung Deutschlands im Jahre 1990 und nach dem Abzug des sowjetischen Militärs im Jahr darauf beschäftigte man sich erneut mit den Ideen, die diesen Ort geprägt haben und seiner Geschichte, nachdem zur Zeit des Nationalsozialismus und zur DDR-Zeit diese Themen be-wusst ausgeklammert wurden, da sie nicht in das politische Konzept der jeweils Herrschenden pass-ten.

Mit dem Plan der Errichtung einer „Europäischen Werkstatt für Kunst und Kultur, Hellerau“ auf dem Gelände der ehemaligen Bildungsanstalt und der Gründung eines Fördervereins, wurde an die ur-sprüngliche Bedeutung dieses Ortes angeknüpft. Ideen und Konzepte vom Anfang des 20.Jahrhunderts sollen u. a. erneut zur Diskussion gestellt werden, ggf. Orientierung sein, Neues soll geschaffen und erprobt werden: Im Prinzip eine Verbindung von Tradition und Zukunft, wobei die interdisziplinäre Arbeit im Vordergrund steht – Alles sollte aber unter dem Leitsatz „Laboratorium einer neuen Menschlichkeit“ stehen, denn die Gefahr, dass der Mensch und die Menschlichkeit im Zuge der rasanten technischen Entwicklung mehr und mehr aus der Mitte des Lebens verdrängt werden, ist am Beginn des 21. Jahrhunderts noch größer geworden.

Wir können den Gründervätern von Hellerau dankbar sein für ihr Werk und ihre Ideen, sie haben Aktualität, mehr denn je!

Literatur:
Dresdner Hefte 51, Beiträge zur Kulturgeschichte „Gartenstadt Hellerau, der Alltag einer Utopie“ (verschiedene Autoren)
Michael Fasshauer, Das Phänomen Hellerau
Peter de Mendelssohn, Hellerau, Mein unverlierbares Europa
Hans-Jürgen Sarfert, Hellerau, die Gartenstadt und Künstlerkolonie